Ein Wunder, ein Geheimnis ist der Kuss;
Denn wie des Morgenlandes Weisen sangen,
Die Lippe küsst, wohin das Herz sich neigt;
Ehrfurcht die Hände, Sklavendienst das Kleid,
Die Freundschaft auf die Wangen; auf die Stirne
Küsst tröstend Mitgefühl; doch auf die Lippen
Drückt Liebe ihren Kuss, wildloderndes
Verlangen auf das müd' geschloss'ne Auge,
Und Sehnsucht haucht ihn seufzend in die Luft;
Noch mehr! Ein Kuss ist das, was ihr ihn schätzt;
Nichts, wenn ihr scherzt, und wenn ihr's ernst meint, alles;
Er kühlt und glüht; er fragt und er gibt Antwort,
Er heilt und er vergiftet, trennt und bindet;
Er kann versöhnen und entzweien, kann
Vor Wonne töten, und kann Tote wecken.
Und mehr noch, mehr! Was könnte nicht ein Kuss?
Friedrich Halm